In Managua erzählt man sich, teils belustigt, teils schadenfroh, wie Daniel Ortega im August tagelang in Havanna darum buhlte, einen Termin an Fidel Castros Krankenbett zu bekommen: vergebens. Der greise Mentor revolutionärer Bewegungen in Lateinamerika ließ den Nicaraguaner draußen stehen. Als seinen Nachfolger sieht er den Venezolaner Hugo Chávez, nicht den Sandinistenchef. Viele Linke in Lateinamerika teilen die Vorbehalte gegenüber Ortega. „Was in Nicaragua triumphiert hat, ist nicht der Sandinismus, sondern der Opportunismus“, schreibt der bolivianische Journalist und Cineast Alfonso Gumucio in einer bitteren Abrechnung mit dem Wahlsieger von Nicaragua. Gumucio, der während der 1980er Jahre längere Zeit in Managua lebte, kannte die Sandinistische Revolution von innen. Er urteilt nicht leichtfertig über einen Mann, der wie kein anderer als Bannerträger der Revolution aufgetreten ist, der Nicaragua über fünf Jahre als Mitglied einer Junta und anschließend fünf Jahre als Präsident regierte.
Dem 61-jährigen Ortega ist es am 5. November gelungen, im dritten Anlauf jenes Amt zurückzuerobern, das er 1990 an den Urnen verloren hatte. Zwar feierte das sandinistische Fußvolk die ganze Nacht in den Straßen von Managua, doch kehrte am Morgen völlige Normalität ein. Die „Jetzt-wird-alles-besser-Stimmung“, die nach einem politischen Umschwung manchmal zu spüren ist, stellte sich genauso wenig ein wie Panikreaktionen unter den GegnerInnen. Die Sandinisten werden nicht mehr als revolutionäre Kraft wahrgenommen, sondern als normale Partei, die keinen politischen Kuhhandel scheut, wenn er der Absicherung der Macht dient. Für Daniel Ortega war es die fünfte Kandidatur in Folge. Dass er sich diesmal durchsetzen konnte, hat er keinem plötzlichen Popularitätsschub zu verdanken, sondern lediglich einer geschickten Reform des Wahlgesetzes und einer Anzahl politischer Intrigen. Denn mit dem Prozentsatz, mit dem er sich diesmal über seine Rivalen hinwegsetzen konnte, hatte er die anderen Wahlen verloren.
Nicaragua von unten regieren. Das war die Parole, die Ortega nach den verlorenen Wahlen 1990 ausgab. Die Sandinisten sollten weiterhin die bestimmende Kraft bleiben. Das funktionierte nur eine Zeit lang. Gewerkschaften und Massenbewegungen konnten sich anfangs mit Streiks und Demonstrationen gegen Teile des vom Internationalen Währungsfonds oktroyierten Anpassungspakets zur Wehr setzen. Doch die Arbeiterbewegung wurde durch die Privatisierung und die Einrichtung weitgehend gewerkschaftsfreier Fertigungsbetriebe in freien Produktionszonen zusehends geschwächt. Gleichzeitig blieb die innere Demokratisierung der zentralistisch geführten Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) aus. Nach und nach verabschiedeten sich die KünstlerInnen und Intellektuellen, allen voran der Befreiungstheologe und Dichter Ernesto Cardenal und der Schriftsteller und ehemalige Vizepräsident Sergio Ramírez.
Auf die Übergangsregierung der Konservativen Violeta Barrios de Chamorro folgte der aggressiv rechtspopulistische Liberale Arnoldo Alemán, ein Mann, der die Sandinisten wegen persönlich erlittener Demütigungen zutiefst hasste und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, deren Spuren so gründlich wie möglich zu tilgen. Er sorgte dafür, dass die während der Revolution gegründeten Genossenschaften parzelliert und verkauft werden konnten. Die besten Stücke kaufte er selber zu günstigen Preisen auf. Seine Gier ging aber zu weit. Internationale Geldgeber stoppten Zahlungen, als zu offensichtlich wurde, dass aus praktisch allen Projekten ein Prozentsatz in die Privatschatulle des Präsidenten floss.
Nach dem verheerenden Hurrikan Mitch, der im November 1997 den Nordwesten des Landes verwüstete, erreichte die Korruption ihren Höhepunkt. Wie einst der Diktator Somoza die Erdbebenhilfe nach dem fatalen Beben 1972 zur persönlichen Bereicherung genutzt hatte, bedienten sich auch Alemán und seine Getreuen aus den reichlich fließenden Geldern. Zur Symbolfigur der Affäre wurde der Finanzamtsdirektor Byron Jerez, der mit der Katastrophenhilfe für die Obdachlosen seine luxuriöse Strandvilla baute. Nach dem Ende seiner Amtszeit, so drohten damals die Sandinisten, würde sich Alemán vor Gericht verantworten müssen. Da traf es sich günstig für den Präsidenten, dass auch sein Rivale Daniel Ortega von strafrechtlicher Verfolgung bedroht war. Dessen inzwischen erwachsene Stieftochter Zoilamérica Narváez hatte öffentlich gemacht, sie sei seit ihrem elften Lebensjahr von Ortega missbraucht worden. Der Vorwurf wurde zwar nie ernsthaft bestritten, doch wurden alle, die Aufklärung forderten, der Konspiration mit dem Geheimdienst CIA beschuldigt.
So fanden zwei Männer, die Gefängnisstrafen fürchten mussten, zueinander. Die charismatischen Anführer der antagonistischen Kräfte FSLN und der Liberal-Konstitutionalistischen Partei (PLC) handelten im Hinterstübchen aus, was fortan „El Pacto“, der Pakt, genannt wurde. Man kam überein, die Institutionen untereinander aufzuteilen und dafür zu sorgen, dass keiner vor Gericht gezerrt würde. Zum Unglück von Alemán wurde 2001 aber nicht Ortega gewählt, sondern der Unternehmer und Liberale Enrique Bolaños, der den internationalen Geldgebern im Wort war, die Korruption zu bekämpfen. Obwohl er Alemán als Vizepräsident gedient hatte, ließ er die Justiz ermitteln und seinen Vorgänger schließlich zu 20 Jahren Haft verurteilen. Die als Führerpartei organisierten Liberalen hielten der Belastung nicht stand. Ein Teil der Partei stellte sich hinter Präsident Bolaños, der größere Teil hielt zum inhaftierten Caudillo. Zünglein an der Waage im Parlament wurde die sandinistische Fraktion, die jetzt die relative Mehrheit stellte.
Die Spaltung der Liberalen eröffnete Daniel Ortega plötzlich die Chance, doch noch in den Präsidentenpalast zurückzukehren. In einem Meisterstück der Kabinettsintrige schloss er mit dem einsitzenden Alemán Pakt II. Ortega bekam die weitgehende Kontrolle über den Justizapparat. Wahlrat, Rechnungshof, Bankenaufsicht und weitere Institutionen wurden paritätisch mit Gefolgsleuten der beiden Parteichefs besetzt. Die gemeinsame Mehrheit in der Nationalversammlung machte es möglich. Das Wahlrecht wurde neuerlich angepasst: eine relative Mehrheit von 35 Prozent sollte reichen, wenn der engste Rivale mindestens fünf Punkte zurück liegt. Für Alemán gab es die Aussicht, bald auf freiem Fuß zu sein und nach einer sandinistischen Regierungsperiode selbst wieder zum Zug zu kommen.
Jetzt galt es noch, die traditionell antisandinistische Kirchenführung ins Boot zu holen. Kardinal Erzbischof Miguel Obando y Bravo, der während der Revolution als eigentlicher Oppositionsführer fungiert hatte, pflegte stets wenig verschleierte Wahlempfehlungen gegen die FSLN auszusprechen. Über die Beweggründe des Kardinals, die Allianz mit den Sandinisten einzugehen, wird viel spekuliert. Zum einen dürfte ihn persönlicher Groll gegen Präsident Bolaños getrieben haben. Denn der strich die unter Alemán vergebenen staatlichen Stipendien für die Katholische Privatuniversität Redemptoris Mater. Außerdem machte er Schluss mit der Zollbefreiung für das erzbischöfliche Beschaffungsamt, das mit Importautos schwunghaften Handel getrieben hatte. Manche meinen auch, Lenin Cerna habe ein ernstes Wort mit dem Kardinal geredet. Der ehemalige sandinistische Geheimdienstchef gebietet noch immer über die Archive des aufgelösten Staatssicherheitsdienstes und hat in allen Institutionen seine Spitzel. Er weiß Bescheid über größere und kleinere Korruptions- und Sexaffären von Geistlichen und Befreiungstheologen. Cerna ist in den letzten Jahren zum wichtigsten Mann hinter Daniel Ortega geworden. Das Foto mit der historischen Verbrüderung Ortega-Obando sah man im Wahlkampf vor allem in den Dörfern, wo der traditionelle Katholizismus noch tief verankert ist.
Seit Obando mit von der Partie ist, hat Daniel Ortega seine Frau Rosario Murillo vor den Traualtar geführt und zeigt sich jeden Sonntag in der Messe. Revolution predigt er nur mehr in ihrer spirituellen Ausformung. Und statt Marx und Che Guevara zitiert er Papst Johannes Paul II. Jüngste Ergebenheitsgeste gegenüber dem Klerus war der von Rosario Murillo angeführte Kreuzzug gegen die medizinisch indizierte Abtreibung. Seit der Regierung des liberalen Präsidenten José Santos Zelaya im Jahr 1891 ist der Schwangerschaftsabbruch straffrei, wenn die Mutter gefährdet oder die Schwangerschaft auf Vergewaltigung zurückzuführen ist. Eine Woche vor den Wahlen peitschte das Parlament mit den sandinistischen Stimmen eine Gesetzesnovelle durch, die jede Form der Abtreibung unter Strafe für Mutter und Arzt stellt. Noch bevor das neue Gesetz in Kraft trat, forderte es ein erstes Todesopfer: Die 18-jährige Jazmina Bojorge verblutete an einer geplatzten Plazenta, weil kein Arzt es wagte, die drohende Fehlgeburt zu behandeln. „Jedes schwangere Mädchen wurde vergewaltigt“, steht auf einem Plakat an der Türe des unabhängigen Frauenzentrums Si Mujer in Managua. Direktorin Ana María Pizarro sieht im völligen Abtreibungsverbot einen Angriff auf die Frauen der ärmsten Schichten: „Wer es sich leisten kann, fährt zum Abtreiben nach Costa Rica oder Kuba. Aber die Frauen aus den Dörfern und den Randvierteln werden verbluten, wenn sie selbst Hand anlegen.“
Nicht nur die unabhängigen Frauenorganisationen und die Ärztevereinigungen stiegen auf die Barrikaden. Auch in der FSLN sorgte der unerwartete Schwenk in der bisherigen Haltung für Aufruhr. „Opportunistisch und saudumm“ findet Elmer Zelaya den Stimmenfang mittels Bigotterie. Der Mediziner und Koordinator österreichischer Städtepartnerschafts- und Solidaritätsprojekte rechnet mit einer heftigen parteiinternen Debatte nach den Wahlen.
Die städtischen Intellektuellen, die Leute aus den unabhängigen Bewegungen, all jene, die lange versuchten, die Partei von innen zu demokratisieren oder den Alleinherrschaftsanspruch Ortegas in Frage zu stellen, wandten sich im Laufe der Zeit von der FSLN ab oder wurden ausgeschlossen. Um sie zu ersetzen, öffnete der ewige Parteichef seine Allianz nach rechts. Er holte Konservative, Christdemokraten und selbst ehemalige Konterrevolutionäre in sein Wahlbündnis. Auch hier regiert der politische Opportunismus. So ließ sich der ehemalige Contra-Kommandant Salvador Talavera alias „Chacalito“ nicht aus lauteren Gründen von der Liberalen Allianz abwerben. Gegen ihn ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Gewalt in der Ehe und Betrugs. Kaum war er bei den Sandinisten, wurde das Verfahren eingestellt.
Auf dem Land wird die Debatte über die politischen Winkelzüge des ehemaligen Revolutionskommandanten kaum geführt. Was in Managua vielleicht als unmoralische Intrige verabscheut wird, gilt treuen ParteigenossInnen in den Dörfern als genialer Schachzug. Zum Teil bemerkt man sogar unmittelbar positive Auswirkungen. „Seit dem Pakt geraten die Anhänger von Arnoldo und Daniel nicht mehr gewalttätig aneinander“, freut sich Ariel Bucardo, Vorstandsmitglied der Kleinbauernunion UNAG. Und in der Kooperative Rafaela Herrera bei Chinandega, die jahrelang gegen offensichtlich gefälschte Ansprüche eines Großgrundbesitzers ankämpfen musste, hat die Richterin keinen Räumungsbefehl mehr unterschrieben, seit Daniel Ortega ein Machtwort sprach.
Omar Cabezas, einst Guerillakommandant, jetzt Menschenrechtsombudsmann, verteidigt die Politik seines Parteichefs aus anderen Gründen: „Wir wären untergegangen, wenn wir uns nicht rechtzeitig Machtquoten gesichert hätten.“ Ähnlich wird argumentiert, wenn es um die Geschäfte der Comandantes geht. Dass Ex-Verteidigungsminister Humberto Ortega als reicher Mann in Costa Rica lebt, ist bekannt. Er soll sein Vermögen mit Waffenschmuggel gemacht haben. Über die Vermögensverhältnisse seines Bruders Daniel ist weniger bekannt. An verschiedenen Wohnbauprojekten soll er beteiligt sein. Jedenfalls lebt er auf großem Fuß und auch seine zahlreichen Söhne und Töchter fahren teure Autos. Gut im Geschäft ist auch die FSLN selbst. Sie hat ein Agrarhandelsunternehmen namens Agricorp gegründet, das im großen Stil Reis aus den USA importiert. Der Partner ist Riceland, ein marktbeherrschendes Unternehmen, das den Republikanern nahe steht.
Leidtragende sind vor allem die Genossenschaften, die sich auf Reisproduktion verlegt haben. Denn den Preis der subventionierten Importe können sie nicht unterbieten. „Schon sehr eigenartig diese Allianz zwischen jenen, die in den USA eine ‚imperialistische‘ Politik verfolgen, und jenen, die in Nicaragua eine ‚antiimperialistische‘ Politik predigen“, wundert sich Sinforiano Cáceres, Chef des Genossenschaftsdachverbandes Fenacoop: „Gegner in der Politik, aber Partner, wenn es um das Geschäft geht.“